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Jetzt erst recht

Scheiße, Scheiße, Scheiße. Hoffnung ist so ein fragiles Ding. 

Vor drei Wochen war ich irgendwie noch guter Dinge, jetzt habe ich das Gefühl die Hoffnung komplett verloren zu haben. Meine Frau sitzt auf dem Sofa, zieht sich Nachrichten in Echtzeit rein und sagt, man muss den Dingen ins Auge blicken. Recht hat sie – sie war schon immer die Sachliche von uns beiden. Vielleicht auch die Realistischere. 

Doch welchen Tatsachen müssen wir ins Auge sehen? Putin ist ein machtgieriges Arschloch, der viele Menschenleben auf dem Gewissen hat. Und weiter haben wird. Die Lage in Europa ist ernst. Und unklar. Es gibt Atomwaffen, die uns vernichten können. Der aktuelle Bericht des Weltklimarats ist raus – auch der sieht nicht gut aus.

Doch irgendwo in mir sagt noch eine leise Stimme: Es gibt doch noch Optionen. Vielleicht kriegen wir das hin. Vielleicht knickt Putin ein – nicht aus Einsicht, so naiv bin selbst ich nicht. Aber vielleicht geht ihm die Verpflegung aus. Oder das Geld. Oder was weiß ich. Ist ja auch egal, warum er aufhört, wenn er nur aufhört. 

Vielleicht kriegen wir das hin mit den 1,5 Grad. Vielleicht hängt ja sogar beides zusammen. Krieg, Russland, Gas, Öl und Klimawandel. Diese Welt ist viel zu komplex geworden als dass ich sie verstehe. 

Lieber Kinderwunsch, wir müssen reden

Und irgendwas in mir sagt: Ja, lieber Kinderwunsch, wir müssen reden. Ich glaube, es ist aus mit uns. Als reflektierter Mensch ist jetzt das Maß an Risiko überschritten, was ich noch bereit bin mitzugehen. Vielleicht ist es Realismus. Vielleicht ist es Angst. Oder einfach Feigheit? Allen voran ist es vermutlich das Bedürfnis meinerseits, nicht Schuld zu sein. Schuld sein wollte ich noch nie. Vor allem nicht, dass ich mich bewusst für ein Kind entscheide, welches dann ein Leben in Krieg und Klimawandel führt. 

Ich mein, kein Mensch glaubt mir, dass ich ausversehen schwanger geworden bin. Oder ich nicht drüber nachgedacht habe. Das ist ja der Haken, wenn man als Lesbe Mutter werden will. Gerade wäre ich irgendwie gerne Hetero. 

Mein Kinderwunsch grinst metaphorisch und macht sich breit. Er rückt keinen Millimeter ab. Während ich Erklär-Podcasts zum Russland-Ukraine-Konflikt höre und einen Fensterplatz für mein Friedensbanner suche, hänge ich in der Warteschleife der Kinderwunschklinik. Ich brauche einen Untersuchungstermin um in zwei Wochen mit der Behandlung starten zu können. Meine Freundin verschluckt sich fast an ihrem Kaffee. Kopfschüttelnd meint sie: "Du würdest selbst noch ein Kind kriegen wenn neben uns eine Atombombe explodiert." Jetzt verschlucke ich mich am Kaffee. 

Alles nicht so einfach. 

In der Kinderwunschklinik ist immer besetzt

Die nächsten Tage fahren meine Emotionen Achterbahn. Das Leben geht weiter, der Krieg auch. Ein befreundetes Paar schreibt, dass die erste ICSI erfolgreich war, meine Nachbarin ist schwanger, auf Instagram werden Kinder geboren. Ich texte die Leute in meiner Kinderwunschgruppe zu und frage meine Freund*innen um Rat. Der Satz „Auch im zweiten Weltkrieg wurden Kinder geboren“ tröstet mich, gleichzeitig kann ich ihn nicht mehr hören. 

 Ach ich weiß es doch auch nicht. In der Kinderwunschklinik ist immer besetzt.  

Eine Freundin schreibt mir:  „Jetzt erst recht! Wenn wir nichts haben, wofür es sich lohnt, abzurüsten/zu verhandeln, wehren wir uns zu wenig. Also bleibe ich dabei: ich drücke dir die Daumen!“

Das wollte ich hören. Danke.

geschrieben von Julie


Du willst wissen wie es weitergeht mit Julie und ihrem Kinderwunsch?

Dann lies den Folgebeitrag Kompromisse.

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Kommentare: 1
  • #1

    Annika (Dienstag, 15 März 2022 21:40)

    Danke, für diesen ehrlichen und realistischen Post! Und trotzdem macht das Ende Mut und Hoffnung...